Jump to content

Pagina:Cornelii Taciti - Agricola.djvu/10

E Wikisource
Haec pagina emendata et bis lecta est
iv
 
vorwort.

welche für die Jugend vorzugsweise anziehend zu sein pflegt; sie ist ferner mit liebevoller Theilnahme, ja mit Begeisterung für den Gegenstand geschrieben, sie erfüllt daher die Bedingung, von welcher nach dem bekannten Ausspruch Göthe’s Werth und Wirkung einer Schrift hauptsächlich abhängen; dieser Gegenstand aber, Agricola, erregt unser Interesse und unsere Theilnahme nicht allein durch seine allgemeinen vortrefflichen Eigenschaften, sondern namentlich durch die einen Grundzug seines Charakters bildende selbstlose Entsagung, die er sich auferlegt, um seinem Vaterlande nützliche Dienste leisten zu können, und die ihn aus Patriotismus auf jede Frucht seiner Anstrengungen, selbst auf den Ruhm verzichten lässt. Endlich ist sie nicht nur, wie alle übrigen Schriften des Tacitus, von der heissesten Liebe zur Freiheit durchdrungen (diese ist es, die ihn auch in den Stand gesetzt hat, in der Schilderung des Aufstands der Britannier unter Boudicca, c. 15, und in der Rede des Calgacus, c. 32—33, den Freiheitsgefühlen der Feinde gerecht zu werden), sondern es tritt darin auch eine (den Römern sonst völlig fremde) Zartheit der Familienempfindung hervor, die ihre Wirkuug auf ein empfängliches Gemüth nicht verfehlen kann. Namentlich wird die Schlusspartie, in welcher er seinem Schmerz über den frühen Tod Agricola’s und insbesondere darüber, dass dessen Augen auf dem Sterbebette die Tochter und den Schwiegersohn vermisst, mit kurzen, empfindungsvollen Worten Ausdruck giebt, immer ein Beispiel ergreifendster Darstellung bleiben.

Der in diesem Allen enthaltene Reiz ist es sicherlich nicht am wenigsten, was der Schrift das Interesse und was ihr auch die Bemühungen der Gelehrten vorzugsweise zugewandt hat. Ein weiterer Grund für ihre immer wieder erneuerte Bearbeitung liegt in der Gedrängtheit der Darstellung, welche öfter die verschiedenartigste Auffassung hervorgerufen hat, sodann aber auch in der Beschaffenheit der Ueberlieferung des Textes. Es sind uns nur zwei Handschriften aus dem 15. Jahrhundert erhalten, nämlich Vatic. 3429 (A, von Wex mit Γ, von Nipperdey mit a bezeichnet, mit ziemlich zahlreichen, am Rand oder über der Linie bemerkten Varianten) und Vat. 4498 (B), von denen die erstere die bessere ist, obgleich auch die andere hier und da eine erwünschte Hülfe bietet, die aber beide von untergeordnetem Werth sind und der Verbesserung durch die Kritik vielfach bedürfen. Sie ist daher, wie ein angesehener französischer Gelehrter (Burnouf) gesagt hat, von allen Schriften des Tacitus die am meisten gelesene, aber noch immer am wenigsten verstandene. Bei dieser Sachlage wird man es, wie ich hoffe, nicht als überflüssig befinden, wenn